Julia Beck

Translation in der PresseZum Einfluss der Produktionssituation auf den Übersetzungsprozess bei der Arbeit deutscher Auslandskorrespondent*innen in Frankreich

„Noch nie hatte man im französischen Fernsehen so oft das Wort ‚emmerder‘ gehört. Wer vorsichtig sein will, übersetzt ‚emmerder‘ mit ‚auf die Nerven gehen‘ oder ‚drangsalieren‘. Wer die Vulgarität des Wortes abbilden will, sollte lieber die Übersetzung ‚auf den Sack gehen‘ wählen“ (Pantel). Schlägt man eine Zeitung auf oder klickt einen Artikel über unsere französischen Nachbar*innen im Netz an, so ist – abgesehen von Ausnahmefällen wie dem eingangs zitierten Artikel zu Emmanuel Macrons sprachlichem ‚Ausrutscher‘ gegenüber den französischen Impfgegner*innen – den wenigsten Leserinnen und Lesern bewusst, dass sie nicht nur einen informativen Text, sondern an vielen Stellen auch einen übersetzten Text konsumieren. Noch weniger wissen wir darüber, wie diese Übersetzungen zustande kommen, was zu einer Untersuchung der übersetzerischen Arbeit deutscher Auslandskorrespondent*innen in Frankreich anregt.

Blickt man auf das Phänomen der Übersetzung aus einer translationssoziologischen Perspektive, so wird das Verständnis von Translation als kulturelle und mentale Transferprozesse um die Facette des sozialen Kontexts, in dem diese Prozesse ablaufen, erweitert (vgl. Wolf 337). Auch bei der Untersuchung des journalistischen Übersetzens wird dieser Blickwinkel inzwischen eingenommen (vgl. Bielsa News Translation 366) und kann insbesondere bei der Analyse der übersetzerischen Arbeit von Auslandskorrespondent*innen von Nutzen sein: Diese handeln zwar in räumlicher Distanz zu dem Medium, für das sie tätig sind – also beispielsweise der Tageszeitung, für die sie schreiben –, dennoch sind sie durch zahlreiche Verbindungen mit diesem vernetzt (vgl. Hahn/Lönnendonker/Scherschun 27). In meinem Beitrag möchte ich daher nach einem Blick auf den Forschungsstand anhand der Übersetzung von Zitaten und Kulturspezifika durch deutsche Pressekorrespondent*innen aufzeigen, inwiefern die Situation, in der die journalistischen Texte produziert werden, den sprachlichen und kulturellen Transferprozess bei der Arbeit von Auslandskorrespondent*innen beeinflusst.

Forschungs,objekt‘ Auslandskorrespondent*innen

Der Forschungsbereich der journalistischen Übersetzung befindet sich an der Schnittstelle zwischen der Translationswissenschaft und den Kommunikationswissenschaften, insbesondere der Journalistik. Während letztere zwar die Mediensprache untersuchen sowie komparative Studien zu Mediensystemen und -sprachen unterschiedlicher Länder und Kulturen betreiben, wurde der Blick auf den Sprach- und Kulturtransfer in den Medien durch Übersetzungsprozesse jedoch weitestgehend ausgeblendet und das Übersetzen eher als nachrangiger und hinderlicher Prozess wahrgenommen (vgl. Valdeón 644). An diesem Punkt setzt die Translationswissenschaft an, sodass einige Charakteristika journalistischer Übersetzung herausgearbeitet werden konnten, die von denen der ‚traditionellen‘ Übersetzung, insbesondere der prototypischen literarischen Übersetzung, stark abweichen. Eine Besonderheit stellt die Tatsache dar, dass Forschende im Bereich der journalistischen Übersetzung – im Gegensatz zu der klassischen Übersetzungssituation, bei der sich ein Ausgangs- und ein Zieltext gegenüberstehen – mit ‚instabilen Quellen‘ konfrontiert sind, das heißt, dass häufig mehrere, oft auch nicht mehr genau zurückverfolgbare Texte zu einem Zieltext verarbeitet werden. Dabei stehen nicht die Treue zu den Ausgangstexten und ihren Autor*innen, sondern die zu vermittelnden Informationen im Vordergrund (vgl. Hernández Guerrero 44 f.). Dies führt zu teils tiefgreifenden Modifikationen des Ausgangstextes, wodurch häufig die Grenzen des traditionellen Übersetzungsbegriffs erreicht werden. Dies ist mit der obersten Maxime des journalistischen Vertextungsprozesses – Klarheit und leichte Verständlichkeit für den Leser – zu begründen und geht vielfach mit einbürgernden Übersetzungsmethoden einher, sodass diese im Bereich der Massenmedien, insbesondere auf der Ebene der Presseagenturen, deutlich überwiegen (vgl. Bielsa/Bassnett 10). Im Bereich der Übersetzungsverfahren spiegelt sich dies insbesondere in Änderungen des Titels und Lead-Satzes, um diese an journalistische Textkonventionen der Zielsprache anzupassen, sowie der Reihenfolge von Abschnitten des Ausgangstextes, der Hinzufügung von für Zielleser*innen relevanter Hintergrundinformationen bzw. der Auslassung von für das Zielpublikum als irrelevant eingeschätzter Informationen sowie dem Zusammenfassen bestimmter Informationen, um die Textlänge des Zieltextes zu reduzieren (vgl. ebd. 64). Die genannten Modifikationen führen dazu, dass der Übersetzungsprozess selbst praktisch unsichtbar ist, was dadurch verstärkt wird, dass die übersetzerische Tätigkeit in den meisten Fällen nicht ausgebildeten Übersetzer*innen, sondern dem jeweiligen Journalisten oder der jeweiligen Journalistin selbst obliegt und damit vollständig in den Textproduktionsprozess integriert ist (vgl. Hernández Guerrero 29). Befragungen zahlreicher Journalist*innen haben gezeigt, dass sich diese trotz ihrer offensichtlichen Übersetzungstätigkeit nicht als Übersetzer*innen verstehen – eine Tätigkeitsbeschreibung, die weiterhin häufig mit dem klassischen Bild des Literaturübersetzens verbunden ist –, sondern vielmehr als Vermittler*innen (vgl. ebd.). Dies führte auch zu einer Diskussion über die Angemessenheit des Übersetzungsbegriffs im Bereich des Journalismus, an dessen Stelle häufig Termini wie ‚Transediting‘ treten. Aufgrund der Gefahr, dass dies zu einer Einengung des Übersetzungsbegriffs auf einen Prozess der reinen Wort-für-Wort-Ersetzung ohne Berücksichtigung des textuellen und soziokulturellen Hintergrunds führen könnte, plädieren Translationswissenschaftlerinnen wie Christina Schäffner (vgl. 881) jedoch durchaus für eine Verwendung des Terminus ‚Übersetzung‘ im Bereich des Journalismus.[1]

Ein besonders hoher Anteil übersetzerischer Tätigkeit findet sich in der Arbeit von Auslandskorrespondent*innen, deren Aufgabe es ist, „thematische Entwicklungen und Ereignisse, die im Ausland stattfinden, [zu] formulieren und in Kontexte ein[zu]binden, um Missverständnisse zu vermeiden“ (Hahn/Lönnendonker/Scherschun 32 f.). Eine Besonderheit der Tätigkeit von Auslandskorrespondent*innen im Vergleich zu Journalist*innen in Auslandsredaktionen liegt in ihrer Situierung im Berichtsland bei gleichzeitiger organisatorischer Anbindung an die Heimatredaktion im ‚Zielland‘ – zumindest im Falle fest angestellter Korrespondent*innen: Der Journalist oder die Journalistin ist Teil des „Geflechts seiner Organisation […], die verschiedene, manchmal sogar gegensätzliche Ziele verfolgt, welche die Nachrichtenauswahl erfüllen muss“ (ebd. 27). Neben Zeit- und Platzvorgaben spielen hier auch die redaktionelle Linie des Mediums, die Verteilung der Entscheidungskompetenzen zwischen Korrespondent*in und Heimatredaktion oder auch deren ‚Agenturgläubigkeit‘ eine Rolle (vgl. Nitz 515 ff.). Auslandskorrespondent*innen sind also, ähnlich wie Übersetzer*innen, in einen sozialen Kontext eingebunden, sodass ein translationssoziologisch orientierter Blickwinkel auf ihre übersetzerische Tätigkeit, bei dem der Fokus auf das Handeln der Akteur*innen gerichtet ist, geradezu unumgänglich ist. Dieser akteursbezogene Ansatz ermöglicht es, die Beziehungen zwischen den äußeren Bedingungen der Textproduktion und der Entscheidung für bestimmte Übersetzungsstrategien zu erfassen (vgl. Wolf 341). Hilfreich sind hier die funktionalen Übersetzungstheorien, die Übersetzen als eine Form menschlichen Handelns in unterschiedlichen Kontexten und Kulturen verstehen. In einer Weiterführung dieses Gedankens kann Übersetzen gar als Expert*innenhandeln betrachtet werden, da Übersetzer*innen „auf der Basis ihrer Expertendistanz und ihres Expertenwissens […] ein gedankliches Bild von der Gesamtsituation der interkulturellen Kooperation mit ihrem vielschichtigen Handlungsgefüge entwickeln [können]“ (Risku 46). Das Expertentum von Translator*innen besteht dabei in ihrer Fähigkeit zur Kommunikation in verschiedenen Kulturen und ihrem Wissen über die Konventionen der Zielkultur (vgl. ebd. 45 f.).

Auch Auslandskorrespondent*innen kommt ebendieser Expert*innenstatus zu: Einerseits verfügen sie aufgrund ihrer Situierung im Berichtsland und ihrer dortigen Erfahrungen über eine große Expertise, die sie dazu befähigt, dortige Vorgänge und Ereignisse einzuordnen und zu interpretieren (vgl. Hahn/Lönnendonker/Scherschun 22). Andererseits sind sie weiterhin der Kultur ihres Zielpublikums zugehörig und können so dessen Vorwissen einschätzen, was ihnen die Möglichkeit gibt, die Informationen aus dem Berichtsland für das Zielpublikum zu adaptieren und damit verständlich zu präsentieren. Dieses ist hierauf angewiesen, da „[a]nders als bei Geschehnissen im Nahbereich […] im Fernbereich des Auslandsgeschehens zumeist das kritische Korrektiv eigener Erfahrung oder alternativer Informationsquellen [fehlt]“ (Hafez 12). Auslandskorrespondent*innen stehen dabei in einem ständigen Spannungsverhältnis zwischen dem Ziel der journalistischen Objektivität und Neutralität bei ihrer Berichterstattung, die eine gewisse Distanz zu ihrem Berichtsland erfordert, und der Notwendigkeit, in diesem eine längere Zeit zu leben und in dieses einzutauchen, um das entsprechende Expert*innenwissen zu erwerben und den Problemen des parachute journalism mit seiner gezwungenermaßen oberflächlichen Berichterstattung entgegenzuwirken (vgl. hierzu Hahn/Lönnendonker/Scherschun 22 sowie Believeau/Hahn/Ipsen 135 f.). Zudem stehen die ständigen Anpassungen der Informationen an die Normen und Erwartungen der Zielkultur, die auf sprachlicher Ebene häufig mit einer einbürgernden Übersetzungsmethode einhergehen, dem Ziel der Objektivität und Neutralität in der Berichterstattung teilweise entgegen. Diese einbürgernden Übersetzungsverfahren erzeugen eine scheinbare Bekanntheit des Fremden, wodurch kulturelle Unterschiede eingeebnet werden, und lassen den Übersetzungsvorgang selbst mit seinen ihm eigenen Interpretationen verschwinden (vgl. Bielsa, Cosmopolitanism and Translation 153 f.). Dies birgt die Gefahr, dem Potenzial von Auslandskorrespondenz – die Rezipient*innen durch die Konfrontation mit dem Fremden zu einer offenen und kosmopolitischen Haltung zu befähigen – entgegenzustehen (vgl. ebd.). Zu der Bedeutung von Auslandskorrespondent*innen stellt Esperança Bielsa (News Translation 368) mit Bezug auf Roland Robertsons Globalisierungsgedanken fest: „[F]oreign correspondents have been key mediators and translators between cultures since the advent of modern journalism, contributing to our increasing awareness of the world as a single place“[2]. Daher ist die Frage danach, von welchen Faktoren der Übersetzungsprozess im engeren Sinne – das heißt die Festlegung des Übersetzungszwecks und -ziels sowie der angewendeten Übersetzungsmethode und der -verfahren – bei der Arbeit von Auslandskorrespondent*innen durch die Einbindung in einen sozialen Kontext beeinflusst wird, von besonderem Interesse. Dies soll am Beispiel des Umgangs mit Zitaten sowie der Übersetzung des kulturspezifischen Ausdrucks banlieue durch Auslandskorrespondent*innen aufgezeigt werden.

Übersetzungsentscheidungen im journalistischen Textproduktionsprozess

Die Erkenntnisse, die ich im Folgenden darstellen möchte, stützen sich auf neun semistrukturierte Expert*inneninterviews, die im November 2019 und Januar 2020 mit deutschen Presseauslandskorrespondent*innen in Frankreich (Paris) geführt wurden und die zum Ziel hatten, detaillierte Informationen über die übersetzerische Herangehensweise von Auslandskorrespondent*innen, ihre Arbeitsweise und ihr Selbstverständnis als Vermittler*innen zwischen zwei Sprachen und Kulturen zu erhalten. Die jeweils etwa fünfundvierzigminütigen Gespräche wurden im Anschluss transkribiert und im Rahmen einer qualitativen Inhaltsanalyse, gestützt auf die von Bruno Latour, Michel Callon und John Law entwickelte Akteur-Netzwerk-Theorie, ausgewertet. Diese versteht sich als prozessorientierter Ansatz, um gesellschaftliche Zusammenhänge zu verstehen, und erweist sich insofern als fruchtbar, als sie die Beschreibung der Interaktion von menschlichen Akteuren[3] und nicht-menschlichen Aktanten ermöglicht, die Einfluss auf den Übersetzungsprozess haben, weshalb sie auch in der Translationswissenschaft, bislang insbesondere im Bereich des Literaturübersetzungsbetriebs, zur Anwendung kommt. Latour schlägt eine offene Herangehensweise an das ethnografische Material vor, die er als „science en train de se faire“ (Latour/Biezunski 29) bezeichnet. Dabei ist das Netzwerk nicht gegeben, sondern entwickelt sich erst durch die Beobachtung der Interaktion von Akteuren und Aktanten. Diese Herangehensweise kommt dem explorativen Charakter der Expert*inneninterviews entgegen, aus denen heraus das Wissen über die Entstehungsprozesse journalistischer Übersetzungen erst gewonnen werden sollte. Sie ermöglicht es zudem, den gesamten Transferprozess mit allen an ihm beteiligten Personen(gruppen), aber auch nicht-menschlichen Einflüssen wie Zeit, Fachwissen, kultureller Hintergrund oder Arbeitssituation zu erfassen.

Basierend auf dem Netzwerkgedanken möchte ich im Folgenden darstellen, welche Faktoren auf die Übersetzung von Zitaten in einem von Auslandskorrespondent*innen verfassten Text einwirken und wie die Übersetzungssituation den Übersetzungsprozess beeinflusst. Als erster Akteur ist der Ausgangstextproduzent oder die Ausgangstextproduzentin zu berücksichtigen, von dem bzw. der das Zitat stammt. Hier spielt dessen bzw. deren sozialer Status sowie der soziale Kontext, in dem die Äußerung stattfindet, eine Rolle. So kann beispielsweise der Originalton eines hochrangigen Politikers oder einer hochrangigen Politikerin zu einem außenpolitisch relevanten Thema im Rahmen einer Pressekonferenz ein wörtliches Übersetzungsverfahren nach sich ziehen, wie die Aussage einer Auslandskorrespondentin im Rahmen der geführten Interviews zeigt: „[…] wenn es sich um reine Zitate handelt. Dann versuche ich […] möglichst sklavenhaft an dem Originalzitat zu kleben“. Handelt es sich hingegen um eine Aussage während eines Hintergrundgesprächs, so kann eher ein paraphrasierendes Übersetzungsverfahren in Form eines indirekten Zitats zum Einsatz kommen. Ein weiterer Faktor, der Einfluss auf die Übersetzungsentscheidung nimmt, ist die Tatsache, dass Originaltöne, wie in dem zuvor genannten Beispiel, häufig nicht nur in einem Medium erscheinen; vielmehr zirkulieren durch die Veröffentlichung in unterschiedlichen Medien gegebenenfalls auch mehrere Übersetzungen des Originaltons, insbesondere von Presseagenturen. An diesem Punkt tritt ein weiterer Akteur in den Vordergrund, mit dem der Auslandskorrespondent oder die Auslandskorrespondentin in Verbindung steht: die Heimatredaktion des Mediums, für das er oder sie tätig ist. Der Einfluss auf die Übersetzungstätigkeit des Korrespondenten oder der Korrespondentin durch die Heimatredaktion kann direkt erfolgen, indem die Übersetzung eines bestimmten Ausdrucks im Zuge des Lektorats ausgehandelt wird. Er kann jedoch auch indirekt dadurch ausgeübt werden, dass die zuvor genannten existierenden Paralleltexte von der Heimatredaktion rezipiert werden und als Vergleichsbasis für die Übersetzung des jeweiligen Auslandskorrespondenten oder der jeweiligen Auslandskorrespondentin dienen, der oder die seine bzw. ihre möglicherweise abweichende Übersetzungsentscheidung dann entsprechend begründen muss. Je nach dem von der Redaktion anerkannten Expert*innenstatus des Auslandskorrespondenten oder der Auslandskorrespondentin, seiner bzw. ihrer Erfahrung und Sprachkompetenz sowie dem Grad der bereits angesprochenen ‚Agenturgläubigkeit‘ der Redaktion kann dies entweder dazu führen, dass der Korrespondent bzw. die Korrespondentin seine bzw. ihre Übersetzung im Vorfeld an die bereits bestehende Agenturübersetzung angleicht, oder aber bewusst eine abweichende und als treffender erachtete Übersetzung wählt, die dann aufgrund der Expertise des Korrespondenten oder der Korrespondentin bevorzugt wird. Weitere von der Heimatredaktion ausgehende Einflussfaktoren sind Zeit- und Zeilenvorgaben. Das Layout einer Zeitungsseite kann beispielsweise dazu führen, dass anstelle der Übersetzung eines ausgangssprachlichen Zitats durch ein direktes Zitat in der Zielsprache in Kombination mit einer Erklärung für das Zielpublikum ein indirektes, paraphrasierendes Zitat gewählt wird, um eine Platzeinsparung zu erzielen. Schließlich kommt mit dem Zieltextrezipienten oder der Zieltextrezipientin ein weiterer Akteur zum Tragen, der indirekt durch sein Vorwissen und seine Erwartungen an den Zieltext Einfluss auf die Übersetzungsentscheidung des Auslandskorrespondenten bzw. der Auslandskorrespondentin nimmt. Da er oder sie aufgrund seines bzw. ihres Wissens über die Zielkultur das Vorwissen und die Erwartungen der Leserschaft einschätzen kann, werden Übersetzungsmethode und -verfahren entsprechend gewählt. Dies soll nun konkret am Beispiel der Übersetzung des kulturspezifischen Lexems banlieue dargestellt werden.

Übersetzt wird der im Französischen stark konnotativ besetzte Ausdruck banlieue im Rahmen eines Berichts einer Auslandskorrespondentin über ein in einem Pariser Vorort (banlieue) angesiedeltes Kulturprojekt. Die Journalistin spricht zu diesem Zweck mit Kulturschaffenden vor Ort. Sie möchten die Botschaft vermitteln, dass eine banlieue weit mehr ist als ein Ort, an dem Armut und Gewalt vorherrschen, ein Bild, das im Französischen neben der denotativen Bedeutung Vorort auf konnotativer Ebene vor allem durch die Jugendkrawalle 2005 in zahlreichen Vororten französischer Großstädte eng mit dem Lexem banlieue verknüpft ist. Diese Konnotation ist zwar zum Teil auch deutschen Rezipient*innen bekannt, da die Thematik der Jugendkrawalle auch in den deutschen Medien stark präsent war, die Auslandskorrespondentin kann ihrer eigenen Aussage nach jedoch nicht davon ausgehen, dass dies bei allen deutschen Leser*innen so ist. Daher kommt bei der Produktion des Zieltextes zusätzlich zu der Vermittlung der reinen Information darüber, dass solche Kulturprojekte in französischen banlieues existieren, ein weiteres Ziel hinzu. Dieses besteht darin, dem deutschen Rezipienten bzw. der deutschen Rezipientin die große Bedeutung zu vermitteln, die solche Projekte in französischen Vororten für französische Bürgerinnen und Bürger aufgrund der banlieue-Problematik haben. Zu dem Übersetzungszweck der reinen Informationsvermittlung kommt also auch der einer Einschätzung des Berichtslands mit seinen kulturellen Besonderheiten und gesellschaftlichen Hintergründen hinzu. Zudem wird, insbesondere bei Leser*innen, die mit der banlieue-Problematik vertraut sind, durch den Bericht selbst bezweckt, vorherrschende Klischees abzubauen. Zur Erreichung dieser Ziele wählt die Korrespondentin im konkreten Fall eine verfremdende Übersetzungsmethode: „Und [bei] banlieue muss man einfach […] schon auch das Wort benutzen, aber ich glaube, man muss das erklären“ (AK6, 155). Zu dieser Einschätzung gelangt sie aufgrund ihres Expertinnenwissens auf sprachlicher und kultureller Ebene, das es ihr ermöglicht, sowohl die konnotative Bedeutung des Lexems banlieue im Französischen zu erfassen als auch zu der Einschätzung zu kommen, dass eine einfache Ersetzung des Lexems durch einen zielsprachlichen Ausdruck wie Vorort nicht ausreicht, um für die deutsche Leserschaft einen verständlichen Zieltext zu kreieren. Sie wählt daher auf der Ebene der Übersetzungsverfahren eine Entlehnung des ausgangssprachlichen Lexems banlieue, kombiniert mit einem erklärenden bzw. kontextualisierenden Zusatz. Des Weiteren ist die Zeitungsredaktion des Mediums, in dem der Bericht erscheint, involviert. Im konkreten Beispiel wirkt sich dieser Einfluss im Zusammenspiel mit der Arbeitssituation der Korrespondentin weniger auf die Erstellung als vielmehr auf die Rezeption des Zieltextes aus: Da die Korrespondentin nicht bei einem Medium fest angestellt ist, sondern frei arbeitet und ihre Texte daher in zahlreichen Zeitungen erscheinen, ist eine enge Absprache mit den jeweiligen Redaktionen praktisch unmöglich. Daher wird der gelieferte Text in diesem Fall ohne vorherige Rücksprache mit der Korrespondentin von der Redaktion des Mediums mit einem Foto versehen und publiziert. Das gewählte Pressefoto zeigte im konkreten Fall brennende Autos als Symbolbild für die französische banlieue, eine Assoziation also, der die Sender*innen des Ausgangstextes sowie die Korrespondentin selbst durch ihren Bericht entgegenwirken wollten.

Die vorangegangenen Ausführungen lassen beispielhaft erkennen, dass erst die Analyse des Netzwerks, innerhalb dessen der Übersetzungsprozess abläuft, es ermöglicht, die diesen Prozess beeinflussenden Faktoren herauszuarbeiten und die daraus resultierenden konkreten Übersetzungsentscheidungen der Korrespondent*innen nachzuvollziehen. Auch dass Auslandskorrespondent*innen, ähnlich wie Übersetzer*innen, eine Expert*innenenrolle innehaben, zeigt sich in der Interaktion mit den am Übersetzungsprozess beteiligten Akteuren, insbesondere den Journalist*innen der Heimatredaktion, mit denen gegebenenfalls Übersetzungsentscheidungen diskutiert bzw. denen gegenüber diese begründet werden. Welchen Einfluss die Interaktion zwischen Redaktion und Auslandskorrespondent*in – wie im zuvor genannten Beispiel – auch auf die Rezeption eines Zeitungsartikels und der darin enthaltenen Übersetzungen haben kann, unterstreicht die Wichtigkeit der Expertise von Auslandskorrespondent*innen als Vermittler*innen zwischen zwei Sprachen und Kulturen.

Literaturverzeichnis

Beliveau, Ralph, Oliver Hahn, und Guido Ipsen. „Foreign Correspondents as Mediators and Translators Between Cultures: Perspectives From Intercultural Communication Resaerch in Anthropology, Semiotics, Cultural Studies“. Peter Gross und Gerd G. Kopper, Hg., Understanding foreign correspondence: A Euro-American handbook of concepts, methodologies, and theories. New York: Peter Lang, 2011. 129–164.

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Bielsa, Esperança. „News translation“. Mona Baker und Gabriela Saldanha, Hg., Routledge encyclopedia of translation studies. 3. Aufl. London, New York: Routledge, 2019, 365–370.

Bielsa, Esperança. Cosmopolitanism and translation: Investigations into the experience of the foreign. London, New York: Routledge, 2016.

Hafez, Kai. Die politische Dimension der Auslandsberichterstattung. Baden-Baden: Nomos, 2002.

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Wolf, Michaela. Sociology of translation. Yves Gambier und Luc van Doorslaer, Hg., Handbook of Translation Studies. Bd. 1. Amsterdam: John Benjamins Publishing Company, 2010. 337–343. https://benjamins.com/online/hts/articles/soc1?q=sociology%20of%20translation. Letzter Zugriff am 05.05.2022.


[1] Eine Haltung, der ich mich aufgrund meines eigenen Verständnisses des Übersetzungsbegriffs und der Erkenntnisse aus den mit Journalist*innen geführten Gesprächen anschließe, wie die konsequente Verwendung des Terminus ‚Übersetzung‘ in diesem Beitrag zeigt.

[2] Meine Übersetzung: „Auslandskorrespondent*innen sind seit den Anfängen des modernen Journalismus zentrale Vermittler*innen und Übersetzer*innen zwischen Kulturen und tragen so dazu bei, dass wir die Welt zunehmend als einen einzigen Ort begreifen“.

[3] Im Folgenden wird das Wort ‚Akteur‘ nur in der maskulinen Form verwendet, da es im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie gedacht wird. ‚Akteure‘ sind in diesem Fall nicht zwingend mit Einzelpersonen gleichzusetzen, sondern können auch Personengruppen, wie bspw. ein Redaktionsteam, sein.