Claudia Hamm
Paroli, nicht nur Zunge. Was ein Übersetzermund so alles rauslässt
Ich bedanke mich bei allen beteiligten Veranstaltern sehr herzlich für diese Einladung – denn will man sich über das eigene Tun verständigen, erscheint mir die Verbindung von Theorie und Praxis immer höchst fruchtbar. Meine Perspektive ist dabei die der Literaturübersetzerin, die folgenden Gedanken erlauben sich deshalb, ganz unmethodisch eine Erfahrung zu reflektieren und dafür zu Hilfe zu ziehen, was gerade dienlich ist. Begonnen habe ich damit bei einem Aufenthalt 2019 am ifk Wien mit seinem Forschungsschwerpunkt Kulturen des Übersetzens, und über „kulturelle Aspekte des Übersetzens“ darf ich auch hier mit ihnen nachdenken –
– nur, muss ich zugeben, habe ich damit schon mindestens ein Problem. Denn der Begriff „Kultur“ ist für mich alles andere als leicht zu fassen. In meiner Schreibpraxis habe ich ihn erst ein Mal definieren müssen[1] und es fällt mir schwer, das, mit dem ich übersetzend zu tun habe, als Kultur zu bezeichnen (so wie im von Lavinia Heller erwähnten Zitat zum Thema Übersetzungseinheit vorgeschlagen). Denn was sollte das sein, eine Kultur? Zumal im Singular? Was können entsprechend kulturelle Aspekte beim Übersetzen sein – jenseits von homogenisierenden und essentialisierenden Konzepten?
Gehen wir der Frage, so wie es meinem Tun entspricht, praktisch nach. Nehmen wir zum Beispiel ein Gedicht. Nehmen wir ein deutsches Gedicht. Zum Beispiel Fisches Nachtgesang von Christian Morgenstern. Vielleicht kennen sie es, es lautet so:
Von diesem Gedicht gibt es eine finnische Übersetzung. Finnland und Kultur, da denkt man an Tango, an Alkohol und Aki Kaurismäki, man denkt an stumme Typen, die in Krämerläden auf Holzbänken sitzen und zuschauen, wenn die Tür aufgeht, ein Kunde hereinkommt und seine Bestellung aufgibt, und man denkt an ebenso schweigsame Verkäufer, die dem Beobachteten das Bestellte wortlos auf die Ladentheke packen, kurz, man denkt an Klischees, aber vielleicht treffen Klischees ja auch etwas Reales, denn der finnische Literaturübersetzer Reijo Ollinen hat folgendermaßen nachgedichtet:
Hat der Übersetzer Ollinen hier kulturelle Aspekte übersetzt? Oder rein persönliche, weil er – ich kenne ihn nicht – vielleicht ein traurigstiller Kaurismäki-Typ ist? Ist das überhaupt eine Übersetzung? Ich würde sagen ja, denn drei wesentliche Bedingungen sind erfüllt: 1. Es gibt ein sogenanntes Original, also einen Ausgangstext, 2. der übersetzte Text bezieht sich auf diesen Ausgangstext, es gibt ein intertextuelles Verhältnis, für das ein Übersetzer Verantwortung zu übernehmen hat und in dessen Ausgestaltung vielleicht die ganze Lust seines Tuns besteht, und 3. der übersetzte Text ist durch einen Verwandlungsprozess aus dem ersten hervorgegangen. Über einen Ähnlichkeitsanspruch, den viele Theorien formulieren, ließe sich hier lange debattieren (was ich nicht tun möchte, denn ich halte viel von Walter Benjamins Behauptung: „Kontinua der Verwandlung, nicht abstrakte Gleichheits- und Ähnlichkeitsbezirke durchmißt die Übersetzung“[2]),aber wollte man wissen, ob hier übersetzt wurde, müsste man wohl den Konsens der Finnen zu dieser Frage eruieren und hier ließe sich vielleicht – in diesem Plural – Kulturelles entdecken (nach Umberto Eco entscheidet der Konsens einer Sprachgemeinschaft, ob etwas als Übersetzung akzeptiert wird). Doch ich will hier nicht über Personen und ihre Werke sprechen, sondern über das Übersetzen, also über ein Tun, nicht das Ergebnis dieses Tuns – so zumindest die Anfrage. Was wird beim Übersetzen also getan– und ich will die Frage gleich eingrenzen, denn aus meiner Praxis weiß ich, dass ich Verschiedenes tue, je nachdem, welche Textsorten ich übersetze: Was wird beim literarischen Übersetzen getan?[3]
Übersetzen ist, kurz gesagt, Lesen und Schreiben. Als Übersetzerin bin ich zunächst einmal Leserin eines fremden Textes in einer für mich, da ich einsprachig aufgewachsen bin, „fremden“ Sprache. Als Leserin könnte ich ihm sein Fremdsein lassen, ich könnte ihn anstarren in seiner Fremdheit. Doch sobald ich lese, starre ich nicht nur: Beim Lesen von Schriftzeichen mir bekannter Alphabete höre ich, was ich sehe. Phonetische Sprachen heißen deshalb so, weil ihre Schriftzeichen in einem Zusammenhang zu Phonemen, also Lauten, stehen.[4] Selbst wenn ich kein Französisch verstünde und nur Buchstaben läse und ihre Aussprache erfände, würden mir die Klänge, Strukturen und Satzzeichen schon eine Stimme suggerieren, die in einer bestimmten Bewegtheit spricht und mich anspricht. Meine persönliche Beziehung zu einem Text, meine Antwort auf seinen Appell (denn tatsächlich ist Übersetzen ein Dialog), beginnt hier.
Einen Text als verschriftlichte Rede zu beschreiben ist durch akademische Grabenkämpfe zwischen Produktions- und Rezeptionsästhetik schwierig geworden (und gleichzeitig wäre die Kombination beider Perspektiven für das Nachdenken über das Übersetzen so sinnvoll). War für Aristoteles noch klar, dass die Schrift wiedergibt, „was in der Stimme ist“ (ta en phone), und dass die Stimme vermittelt, „was in der Seele ist“ (ta en psyche), und war im 18. und 19. Jahrhundert etwa für Herder, Schlegel, Wieland oder Novalis Schrift noch notierte Rede und wurde als solche gelesen, so zeigen inzwischen eher Psychologen als Literaturwissenschaftler Interesse an diesem Thema.
Seit 2016 führt die amerikanische Psychologin Ruvanee Vilhauer Studien zum Stimmenhören beim Lesen durch.[5] Und schließt damit an die Forschung des englischen Schriftstellers und Psychologen Charles Fernyhough an (der in Zusammenarbeit mit dem Edinburgh Book Festival auch untersucht, welche Stimmen Autor:innen beim Schreiben hören)[6]. Das Ergebnis der beiden: 82,5 % aller Teilnehmer hören beim Lesen eine Stimme. Das stille Lesen regt eine innere Sprache oder etwas Ähnliches an. (10,6 % dagegen berichten, Gelesenes, ähnlich wie Taubstumme, direkt mit Bildern zu verknüpfen, und 6,9 % sind sich unsicher.) Doch wer spricht, wenn wir lesen? Vilhauers und Fernyhoughs Studien bestätigen, was schon die Autoren des 18. Jahrhunderts behaupten: Die Lesestimme entspricht in vielen Fällen der unserer eigenen Denkstimme,[7] in anderen – etwa wenn wir die Autorin kennen – der von von uns erdachten Sprechern, die wir gewissermaßen halluzinieren.[8]
Wie Fernyhough vermutet – und hier muss ich aufhorchen, wenn ich an das Tun des Übersetzens heranwill –, ist diese innere Stimme jedoch nicht als verlautbarte Sprache zu denken, sondern als eine, die fragmentiert, kondensiert, verdichtet und anreichert: in ein inneres Bild, eine mentale Repräsentation.
An dieser sind nicht nur sprachliche Prozesse beteiligt. Die innere Sprache verknüpft Begriffliches mit visuellen Vorstellungen, Farben, Gerüchen, sensorischen und emotionalen Elementen. Unbewusstes fließt ein, Erinnerungen, Erfahrungen, Abneigungen, Vorlieben. Fernyhoughs neurowissenschaftliche Untersuchungen zeigen: Beim Lesen werden in Sekundenbruchteilen weite Areale des Gehirns verknüpft, in denen Sehen, Hören, Kognition, Artikulation und Motorik „angerufen“ werden. Wenn ich lese, nähere ich mich dem, was ich als „Text“ konstruiere, mit allen Sinnen, mit individueller Intuition und Assoziation genauso wie mit analytischem Sprachwissen und kulturell geprägten Weltbildern, Narrativen und Normen, mit Psyche und Ratio genauso wie mit dem Körper. Lesen ist Fremdgehen und Selbstgespräch in einem, ist Beschäftigung mit einem anderen und mit dem, was dieser im eigenen Selbst auslöst: eine Entfremdung auf Probe. Eine Stimme wirkt dabei wie ein Übergangsobjekt im Sinne der Psychoanalyse, d.h. wie ein Teddybär für Kinder. Sie stellt eine Verbindung zwischen innerer und äußerer Welt her und wird in einer Übertragung mit subjektiven Inhalten gefüllt.
Wenn das stimmt, dann arbeite ich bei der anschließenden Produktion eines deutschen Texts mit der mentalen Repräsentation der aktivierten Stimmen und dann ist der Durchgang eines Texts durch meine Körper-Geist-Psyche-Einheit maßgeblich für die neue sprachliche Form. Und damit für die Produktion eines neuen Übergangsobjekts. Was man die Prosodie der Sprache nennt, gehört dabei zu meinem wichtigsten Baumaterial: Wort- und Satzakzente, Klang- und Rhythmusfolgen, die das Deutsche bereithält, triggern Stimmen und in ihrer Bewegtheit eine eigene Semantik – was der fremdsprachige Text mit seinem anderen Lautmaterial auf seine, aber eine andere Weise tut, weshalb ich mit dessen Gestus und Charakteristik in Ab-Stimmung sein muss. Denn eine literarische Stimme ist auch eine unverwechselbare Art zu sprechen und anzusprechen, ein Duktus, ein persönlicher sprachlicher Fingerabdruck, eine Positionierung. Die parole in der langue also, um mit de Saussure zu sprechen, d.h. die Rede, der Sprechakt in der Einzelsprache – Paroli, nicht nur Zunge, wie ich etwas frei übersetzt habe. Sprache ist immer etwas Geteiltes und zugleich persönlich Gehandhabtes. Eine deutsche Übersetzung bewegt sich in der langue Deutsch, soll aber einer individuellen französischen parole gerecht werden. Das kann sie nur, indem sie eine deutsche parole schafft, die dann nicht mehr die des Originalautors sein kann. – Penser en paroles wäre in diesem Sinne wohl eine treffende Beschreibung meiner übersetzerischen Tätigkeit.
Was lässt sich dabei über kulturelle Aspekte sagen? Wie ist die individuelle parole eines Autors (von Original oder Übersetzung) von ihrem überindividuellen kulturellen Kontext geprägt? Was ist mit diesem Kontext gemeint? Gemeinsame Narrative dafür, woher wir kommen und wohin wir gehen? Wie wir unser Zusammenleben mit anderen und Natur organisieren und verstehen wollen? Als materielle und immaterielle Formen der Selbstverortung in Zeit und Raum? Als Weltbild? Als Normen des Miteinanders? Als Sichtbarmachung von Herkunftserzählungen?[9] Und wie ist dieser kulturelle Kontext wiederum durch die langue geprägt? Wie ist das Verhältnis von Kultur und Sprache zu denken? (Isabelle Kalinowski hat berichtet, wie Mythen, in diesem Fall der Inuit, durch sprachliche Spezifika geprägt sind.) Um auf Reijo Ollinen und seine Übersetzung des Nachtgesangs eines vielleicht etwas traurigerenFisches zurückzukommen: Es bedarf in diesem Fall jedenfalls sprachlichen Wissens, um zu erkennen, was hier passiert ist. Denn das finnische Verb für Übersetzen kääntää heißt auch „drehen, wenden, umdrehen“. Und genau das hat der Übersetzer getan: umgedreht. Eine doch erstaunliche Wendung
– die an etwas anschließt, was wir vom ältesten bekannten Schriftzeugnis für das Wort „Übersetzen“ kennen, dem sumerischen Keilschriftzeichen eme-bal, wobei eme für Sprache, Sprechweise, Zunge steht und bal für Überschreiten oder Verwandeln, wie ich bei David Bellos entdeckt habe.[10]
Eme-bal kann also übersetzt werden als „Sprachüberschreiter“ (hier schließt die gesamte Metaphorik an, die mit dem lateinischen translatare oder transdurre aufgerufen wird: Transfer, Transport, Transit triggert das Wort, das Übersetzen über einen Fluss, ein Grenzübertritt, Rübertragen, Übertragen, vielleicht auch Überreden oder Grenzkriminalität und illegale Einreise), man kann es aber ebenso gut als „Sprachwandler“ verstehen. Und dann wäre eine andere Geschichte zu erzählen: die des meta und der Metamorphosen. Eine Verwandlung ist etwas anderes als der möglichst unbeschadete Transport einer Fracht. Sie ist eine Anverwandlung. Die Übersetzung wird damit ein Wieder- und Weiterschreiben zugleich – réécriture oder rewriting bezeichnen das ganz gut. Als Verwandelter ist der übersetzte Text zurück und nach vorn gewandt, im Dialog mit dem, der ihn angerufen hat und auf den er hinhorcht, und mit denen, die er möglichst stimmig anspricht. Und zwar so individuell wie seine Urheber:innen.
[1] … und zwar bei meiner Übersetzung des in Neukaledonien spielenden Buchs Kanaky von Joseph Andras, für das ich mir das komplexe Weltbild der Kanak allererst aufschließen musste (die mit 28 gesprochenen Sprachen auch keine einzelne, abgeschlossene und homogene Kultur verkörpern) und in dem ich auf Ausdrücke wie „faire la coutume“ und eine melanesische Sprachvariante des Französischen traf. Siehe meinen Essay in Merkur Nr. 861 vom Februar 2021, S. 35, bzw. https://www.toledo-programm.de/journale/2202/kanaky-zuhause: „Was ist eine Kultur? Ein komplexes System an immateriellen und materiellen Formen, an sozialen Praktiken und künstlerischen Manifestationen, an gesellschaftlichen Normen und moralischen Imperativen, eine Ausformung der kollektiven Psyche, in der wir »unseren Platz« verorten.“
[2] Walter Benjamin: „Über Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Band II.1, Frankfurt/M. 1977, S. 151.
[3] Siehe zu den folgenden Ausführungen auch meinen Essay Widersacher?, in dem dieselben Überlegungen zur Lese- und Schreibstimme im Kontext von Neuübersetzungen angestellt werden: https://www.toledo-programm.de/talks/3115/widersacher.
[4] Gut zu erproben ist diese Verlautlichung bei der scriptura continua, derschreibweisedergriechischenundlateinischenmanuskriptevordemmittelalterohneleerzeichensatzzeichenundgroßbuchstabenamwortanfang, die noch kein Spatium und keine Interpunktion für Texte kennt, welche die Lesestimme doch so entscheidend lenken.
[5] Siehe z.B. https://www.academia.edu/33422656/.
[6] Siehe https://writersinnervoices.com, Teil des Hearing-the-voice-Projektes des Edinburgh Book Festivals und der Durham University, sowie das großartige Buch von Charles Fernyhough: Selbstgespräche. Von der Wissenschaft und Geschichte unserer innerer Stimmen. Deutsch von Theresia Übelhör, München/Grünwald 2018.
[7] Nach Fernyhoughs Ergebnissen ist Denken für eine große Mehrheit internalisiertes Sprechen. Doch auch hier gibt es einen Teil von Menschen, der in Bildern denkt statt in Sprache, der Befund ist also nicht universal. Siehe: https://www.technologynetworks.com/neuroscience/articles/inner-speech-internal-monologues-and-hearing-voices-exploring-the-conversations-between-our-ears-335264.
[8] Wobei es hier einen Unterschied zwischen direkter und indirekter Rede zu geben scheint. Siehe Fernyhough, S. 121: „Die Ergebnisse liefern neuronale Grundlagen für die Beobachtung, dass die direkte Rede als lebhafter empfunden wird als die indirekte Rede, weil sie Gehirnareale aktiviert, die die Qualitäten von Stimmen verarbeiten.“ Auch die erlebte Rede in der 3. Person triggert mehr Stimmverarbeitung: „Es steht zweifelsfrei fest, dass die Vermischung der inneren Rede einer Figur mit der normalen Erzählstimme eine jener Methoden ist, mit der Autoren ihre Prosa lebendig werden lassen.“ (a.a.O., S. 125).
[9] Kann es sein, dass Kultur – ähnlich wie Identität, die ja am ehesten als temporäre Identifizierung zu begreifen ist – etwas Prozesshaftes beschreibt und nicht fest umrissene Charakteristika? Sind es Begriffe, die zwar verständlich sind, wenn wir sie gebrauchen (Pragmatik), aber entgleiten und immer nach dem Gegenbeispiel rufen, sobald wir sie definieren wollen?
[10] David Bellos: Was macht der Fisch in meinem Ohr? Sprache, Übersetzen und die Bedeutung von allem, Deutsch von Silvia Morawetz, Köln 2013.