Felix Konstantin Plath

Einblicke in die Wahrnehmung des umstrittenen deutschen Staatsrechtlers Carl Schmitt in Frankreich unter besonderer Berücksichtigung der Übersetzung zweier seiner Schriften ins Französische

Der nachfolgende Beitrag zum Kolloquium Penser en langues, der in sehr ähnlicher Form bereits als mündlicher Vortrag beim virtuellen Zusammentreffen im Februar abgehalten wurde, ist als eine Art Ausschnitt aus meiner laufenden Promotion zur Thematik der Wahrnehmung Carl Schmitts in Frankreich unter Beachtung translationswissenschaftlich relevanter Fragestellungen zu betrachten. Wie es auch der für den vorliegenden Beitrag gewählte Titel andeutet, schließt der Beitrag an die grundsätzliche Methodik an, die dem übergeordneten Promotionsprojekt zugrunde liegt.

In meiner Dissertation befasse ich mich insgesamt mit der Rezeption Carl Schmitts in Frankreich. Da diese Grundproblematik allerdings – aus unterschiedlichen Gründen – äußerst weitläufig ist und hierzu bereits einzelne Arbeiten oder zumindest Diskussionsbeiträge vorliegen, stellt die Arbeit weitestgehend auf die Rezeption Schmitts unter besonderer Berücksichtigung der Translationsproblematik ab.

Es werden in der Promotion vordergründig Untersuchungen zu den Akteuren angestellt, die für die Übersetzung einzelner Schriften Schmitts ins Französische verantwortlich sind, und es wird der Einfluss dieser Akteure auf die Rezeption Carl Schmitts in Frankreich in Zusammenhang mit der jeweiligen Übersetzung selbst aufgearbeitet. Diese Akteure sind mehrheitlich Personen, also die Übersetzer selbst, aber auch Verleger, Rezensenten, Förderer, etc. Demgegenüber können diese Akteure auch in Form von Institutionen auftreten, also Verlage, Institute, Behörden etc. sein. Insgesamt aber steht der Übersetzer oder die Übersetzerin, dessen oder deren Tätigkeit des Übersetzens und seine oder ihre jeweils angefertigte Übersetzung selbst im Fokus der Betrachtung. Ohne an dieser Stelle dezidiert auf die in der translationswissenschaftlichen Theorieforschung beispielsweise unter den Begriffen ‘translator-agency-Theorie‘ oder ‘translator as actor‘ viel diskutierte Frage nach den unterschiedlichen Einflussnahmemöglichkeiten von unterschiedlichen Typen und Persönlichkeiten von Übersetzenden eingehen zu wollen, sei an dieser Stelle lediglich auf die enge Verzahnung der der Promotion zugrunde liegenden Grundfragestellung mit spezifischen Problemstellungen aus eben jenen Stoßrichtungen verwiesen. Es sei an dieser Stelle ferner darauf hingewiesen, dass die fortwährend verwendete maskuline Form zur Bezeichnung von Übersetzenden rein aus Gründen der sprachlichen Praktikabilität Anwendung findet und sowohl männliche, weibliche als auch Übersetzende diversen Geschlechts umfasst.

In meiner Promotion stelle ich insbesondere Recherchen zur Person des Übersetzers und dessen Motiv zur Erstellung der Übersetzung an und überprüfe, inwiefern sich Auffälligkeiten aus der Vita des Übersetzers und der Motivation zur Übersetzung der entsprechenden Schrift in der Übersetzung selbst niederschlagen. Diesem Schema folgend beziehen sich die Untersuchungen also einerseits auf paratextuelle Elemente, also z.B. die Biographie des Übersetzers, die politische Orientierung des Verlags, bei dem die Übersetzung erschienen ist, oder auch auf die Person/en, die für die Anbahnung des Übersetzungsprojektes (mit)verantwortlich ist/sind. Andererseits beziehen sich die Untersuchungen eben auch auf die Übersetzung selbst, also z.B. auf das vom Übersetzer gewählte Übersetzungsparadigma, sofern als solches erkennbar, sowie die Intention der Übersetzung, auf markante und ganz konkrete Übersetzungsentscheidungen, von denen einzelne hier später beispielhaft illustriert werden sollen, oder auf die grundsätzliche Übersetzungstechnik des Übersetzers und deren eventuell beobachtbare Verbindung zum mit der Übersetzung verfolgten Ziel. Insgesamt laufen die Untersuchungen darauf hinaus zu zeigen, inwiefern die betrachteten Personen und Institutionen durch ihre Beteiligung an der Entstehung oder an der Verbreitung einzelner Übersetzungen und die jeweiligen Übersetzungen selbst Einfluss auf die Rezeption Carl Schmitts in Frankreich genommen haben.

Oben wurde bereits die Schwierigkeit angedeutet, die grundsätzliche Fragestellung der Rezeption Carl Schmitts in Frankreich systematisch einzugrenzen. Da Schmitt lange gelebt und ein überaus umfangreiches Werk erbracht hat, bieten sich jedoch auch bei einer Fokussierung auf translationswissenschaftlich relevante Diskussionsansätze in Zusammenhang mit der Grundfragestellung der Rezeption Schmitts in Frankreich noch unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten. Hierbei stellt sich vor allem die Frage, welche Übersetzungen und welche Übersetzer aus welchem konkreten Grund Eingang in die Betrachtung finden sollen. Hierzu sei darauf verwiesen, dass die finale Auswahl von zu betrachtenden Übersetzungen und Übersetzern abhängig gemacht wurde von deren Relevanz für die Schmitt-Rezeption unter beispielsweise gesellschaftspolitischen oder wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten, von der Bedeutung der jeweiligen deutschsprachigen Originalschrift für das Gesamtwerk Schmitts, vom Umfang der Übersetzung, von den zum Übersetzer verfügbaren Informationen sowie weiteren weniger konkret zu fassenden Gründen. Die letztendliche Auswahl unterlag und unterliegt einer ausgiebigen Recherche, die bis zum Zeitpunkt der tatsächlichen Fertigstellung der Dissertation als noch nicht abgeschlossen betrachtet werden muss und im weiteren Verlauf daher durchaus noch Einfluss auf die entsprechende Auswahl von Texten haben kann. Auch erscheint es sinnvoll, darauf aufmerksam zu machen, dass teilweise der Fall einer doppelten oder dreifachen (Teil)Übersetzung einzelner Schriften Schmitts ins Französische zu beobachten ist, mit einem teilweise längeren zeitlichen Abstand zwischen der Veröffentlichung der jeweiligen Übersetzung. Dies ist besonders interessant in Hinblick auf das Motiv der für die jeweilige Übersetzung verantwortlichen Akteure. Beispielsweise wurde Schmitts zentrale Schrift Der Begriff des Poltischen in einem Abstand von etwa 30 Jahren zweimal übersetzt, einmal 1942 und einmal 1972, also in einem jeweils völlig unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Kontext. Hierauf soll nachfolgend auch im Zuge der spezifischen Betrachtung zu Der Begriff des Politischen noch eingegangen werden.

Ausgehend von diesem methodischen Gesamtrahmen soll nachfolgend mit Sandrine Baume und William Gueydan de Roussel auf zwei unterschiedliche, beispielhaft gewählte Übersetzer Bezug genommen werden, da diese auch zwei kolossal unterschiedliche Motive zur Anfertigung ihrer Übersetzung der jeweiligen Schrift Schmitts gehabt haben.

Sandrine Baume: Übersetzung von Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen

Zunächst soll näher auf die Übersetzung von Schmitts Schrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen eingegangen werden, die von Sandrine Baume angefertigt und 2003 veröffentlicht wurde.

Da die Schrift von Schmitt selbst schon 1914 veröffentlicht wurde, liegen zwischen der Veröffentlichung des Originals und der Übersetzung etwa 90 Jahre sowie der Tod Schmitts im Jahr 1985. Schmitt verfasste das Original wenige Jahre nach Beendigung seiner Promotion sowie vor dem Hintergrund seiner ersten Überlegungen zum Gegenstandsbereich der politischen Philosophie. Grundsätzliche Thematik der Schrift ist die Beziehung zwischen Staat und Individuum. Die Übersetzerin Sandrine Baume selbst merkt an, dass die Schrift zwar nicht die insgesamt erste des 1914 noch sehr jungen Autors Carl Schmitt war, jedoch dahingehend eine Neuerung darstellte, dass sich Schmitt hierin erstmals konkret der politischen Philosophie zuwandte, insbesondere anhand der Frage nach der Bedeutung und der Rolle des Staates (Schmitt, La valeur de l’état 8 f.). Auch betont Baume in ihrer Monographie Carl Schmitt, penseur de l’État die Bedeutung der Schrift für ein vertieftes Verständnis der von Schmitt ganzheitlich vertretenen Staatsdoktrin (15): „La Valeur de l’État et la Signification de l’individu résout une énigme, si l’on s’interroge sur les circonstances qui ont éloigné Schmitt des théoriciens de l’État de droit. Cet essai de 1914, où il pense encore l’État dans sa conformité à la légalité, a une valeur explicative pour les publications postérieures qui se détachent nettement des thèses d’avant-guerre.“

Laut Baume konzentriere sich Schmitt in seiner Argumentation innerhalb der Schrift auf das Verhältnis von Recht und Staat, auf eine Definition des Staates sowie auf sich aus dieser Definition ergebende Konsequenzen für das Individuum innerhalb des Staates (Baume, Carl Schmitt 160 f.). Seine Argumentation ziele darauf ab, die Vormachtstellung des Rechts gegenüber dem Staat und die Übermacht des Staats gegenüber dem Individuum zu unterstreichen (Schmitt, La valeur de l’état 7 f.).

Wie eingangs dargestellt, beschäftige ich mich in Hinblick auf die Rezeption Schmitts und einzelner seiner Schriften insbesondere auch mit der Person des Übersetzers und mit dessen Wirkungsfeld. Wichtig erscheint daher ein Abriss über die Biographie Baumes: Sandrine Baume hat in Politikwissenschaft an der Universität Lausanne und dem IEP de Paris promoviert und lehrt an der Universität Lausanne als Assistentin am Lehrstuhl für Politische Ideengeschichte (vgl. “Sandrine Baume“). Sie publizierte im Jahr 2008 ihre Dissertation unter dem bereits genannten Titel Carl Schmitt, penseur de l’État. Genèse d’une doctrine. Außerdem hat sieunterschiedliche Artikel zu Werk und Wirken Schmitts und dessen Bedeutung für den gesellschaftspolitischen Diskurs verfasst (Baume, “Destin de l’antilibéralisme schmittien“ 22 f.).

Die von Baume angefertigte Übersetzung erschien beim Verlag Librairie Droz S.A. und, wie bereits oben angegeben, im Jahr 2003. Zwar ist Droz ein Schweizer Verlag, durch die Übertragung Schmitts Schrift ins Französische sowie die akademische Ausbildung Baumes in Frankreich jedoch ist die Übersetzung ganz eindeutig auch für das französische Publikum relevant. Vielleicht ist sie dies sogar umso mehr als für das schweizerische, da die Diskussion um Schmitt in Frankreich ausgeprägter scheint als in der Schweiz und Baume durch ihre Artikel und Beiträge in französischen Zeitschriften und über französische Institutionen ohnehin fest in den französischen Wissenschaftsdiskurs zu Schmitt involviert ist.

Anhand der bisherigen Darstellung deutet sich bereits das streng akademische Interesse der Übersetzerin Sandrine Baume an der Schrift Schmitts an. Ein Beispiel für ihre vollauf sachorientierte, d. h. dem Grundsatz der Einhaltung rigoroser wissenschaftlicher Objektivität untergeordnete Herangehensweise an Schmitt, ist auch folgender Auszug aus der bereits genannten Monographie Carl Schmitt, penseur de l’État (24): „Si Schmitt n’est pas seul à Weimar à souhaiter un renforcement de l’exécutif, aucun juriste, dans la courte expérience de cette République, n’a théorisé de manière si systématique la revalorisation de la fonction exécutive. Il mène à son terme un projet doctrinal qui rend à l’exécutif sa primauté politique.“ Der Beschäftigung Baumes mit Schmitt liegt also das Bestreben der politikwissenschaftlichen Forschung zugrunde.

Dieses akademische Interesse Baumes an Schmitt äußert sich wiederum auch in der Übersetzung selbst, die objektiv und sachlich ausgestaltet ist. Dies soll die Kurzanalyse folgenden Übersetzungsbeispiels zeigen. In der deutschsprachigen Version heißt es (11): „Kein Autor, der sich ernstlich um Fragen bemüht, wie sie an das Recht, den Staat und das Individuum sich anknüpfen, darf leichtsinnig ignorieren, was mit irgendeiner Berechtigung als Geist der Zeit bezeichnet werden kann. Es läge eine frivole Überheblichkeit darin, deren gerechte Strafe durch eine dauernde Wirkungslosigkeit und Sterilität eindrucksvoll exekutiert würde.“ Die Passage wurde durch Baume folgendermaßen übersetzt (63): „Mais, aucun auteur, se penchant sérieusement sur les questions liées au droit, à l’Etat et à l’individu, ne doit prendre à la légère ce qui peut justement être défini comme l’esprit du temps. Ce serait une attitude arrogante, frivole qui serait légitimement punie par une inefficacité et une stérilité durables.“ Dieses Übersetzungsbeispiel ist Ausdruck einer nicht nur an jener Stelle, sondern insgesamt sachlichen, präzisen und wertneutralen Übersetzungsarbeit Baumes. Dies wird beispielswiese dadurch deutlich, dass keine explizit in der Übersetzung erkennbare Deutung des Ausdrucks „Geist der Zeit“ vorgenommen wurde. Auch wurde durch die Auslassung des Wortes „exekutieren“ im Französischen der Gefahr vorgebeugt, das Wort „exekutieren“ als zu brutal in diesem Kontext wahrzunehmen.

Baumes weitestgehend wertneutraler, d. h. nicht ideologisch oder sogar konkret politisch motivierter Zugang zu Schmitt, äußert sich ebenso dadurch, dass sie neben ihrer Beschäftigung mit Schmitt in Form von Forschung und Übersetzung selbiges auch mit Blick auf die Person Kelsen unternimmt, der als eine Art „Gegenspieler“ von Schmitt begriffen werden kann. Beispielsweise hat sie 2007 die Monographie Kelsen. Plaider la démocratie veröffentlicht und ein Jahr zuvor Kelsens Schrift Wer soll der Hüter der Verfassung sein? übersetzt, die wiederum eine Art Antwort auf Schmitts 1931 veröffentlichte Schrift Der Hüter der Verfassung ist.

Baume verfolgt also durchweg ein akademisches Interesse in ihrer Beschäftigung mit Schmitt, das sich nicht nur in ihrer Rolle als Politologin, sondern eben auch in ihrer Rolle als Übersetzerin Schmitts artikuliert. Sinnbildlich hierfür ist aus meiner Sicht, dass sie den Grund für ihre Auseinandersetzung mit Schmitt und damit indirekt auch den für Ihre Übersetzung der hier in Augenschein genommenen Schrift in gewisser Weise selbst liefert, indem sie sagt (Schmitt, La valeur de l’état 7): „Cet ouvrage, délaissé par la critique, constitue, dans sa redécouverte, une précieuse contribution aux études consacrées à la pensée schmittienne et plus largement aux doctrines dites conservatrices.“

William Gueydan de Roussel: Übersetzung von Der Begriff des Politischen

William Gueydan de Roussel demgegenüber hat in seiner Rolle als Übersetzer Schmitts einen völlig anderen Umgang mit der Person Carl Schmitt gewählt. Damit erfolgt nun ein Sprung zu der von mir eingangs erwähnten, doppelt übersetzten Schrift Der Begriff des Politischen, die als die zentrale Schrift im Gesamtwerk Schmitts begriffen werden kann.

Schmitt begründete mit dieser Schrift, die in ihrer ersten Fassung 1927 veröffentlicht wurde, nämlich in gewisser Weise sein Dogma von der Freund-Feind-Unterscheidung, für die er insbesondere in Zusammenhang mit seinen Verstrickungen in die Durchsetzung der nationalsozialistischen Herrschaftsideologie heftige und teils vernichtende Kritik geerntet hat und noch bis heute erntet. In seiner Schrift Der Begriff des Politischen proklamiert Schmitt die Unterscheidung in ‘Freund‘ und ‘Feind‘ als das elementare Kriterium des Politischen und arbeitet thesenartig aus, dass eine politische Einheit nur auf Basis dieser Unterscheidung zustande kommen könne und der gewaltsame Konflikt bzw. die endgültige Vernichtung des Feindes durchaus Teil der Herausbildung der politischen Einheit sein könne.

William Gueydan de Roussel hat die Schrift Der Begriff des Politischen ins Französische übersetzt. Zunächst erfolgte die Veröffentlichung einer Teilübersetzung im Jahr 1936, bevor 1942 dann die vollumfassende Übersetzung in Frankreich veröffentlicht wurde. Während also schon die Veröffentlichung der Teilübersetzung in den Zeitraum der sukzessiven Machtübernahme durch die Nationalsozialisten fällt, wurde die Gesamtübersetzung zum Zeitpunkt der Besetzung Frankreichs und der Installation des Vichy-Regimes in Frankreich selbst veröffentlicht. William Gueydan de Roussels Wahl des Veröffentlichungszeitpunktes der Übersetzung deckt sich vor dem Hintergrund der von der Machtübernahme der Nationalsozialisten ausgehenden damaligen gesellschaftspolitischen Entwicklung vollauf mit seinem Persönlichkeitsprofil. Gueydan de Roussel nämlich war überzeugter Nationalsozialist und um die rigorose Durchsetzung der Judenverfolgung in Frankreich bemüht.

William Gueydan de Roussel wurde 1908 geboren und verstarb 1996 in Chile, nachdem er im Zuge des Zweiten Weltkriegs ins Exil nach Südamerika geflüchtet war (Fox 10). Sein Motiv hierfür war, einer Bestrafung für sein Wirken zugunsten der nationalsozialistischen Idee und Herrschaft zu entgehen (Aleksić 47 f.). Er war 1935 in Genf zum Doktor der Rechtswissenschaft promoviert worden und ist beruflich somit demselben Feld zuzuordnen wie Carl Schmitt (“William Gueydan de Roussel (1908-19..)“ und Gueydan de Roussel 52). Darüber hinaus ist er nach Maßgabe der Charakterisierung des französischen Verfassungsrechtlers Olivier Beaud, der ihn als „catholique et antisémite“ (Schmitt, Théorie de la Constitution 10) darstellt, auch in seinem persönlichen Wesen Carl Schmitt sehr nah. Schmitt und Gueydan de Roussel tauschten sich wohl auch mehrfach im Rahmen persönlicher Treffen aus (Mehring 401 und Gueydan de Roussel 52). Zur Zeit der Besetzung Frankreichs durch die Nationalsozialisten war Gueydan de Roussel Professor für Rechtsphilosophie an der Sorbonne (Lamendola). Neben seiner Tätigkeit als Geisteswissenschaftler war er als Übersetzer vom Deutschen ins Französische tätig (“William Gueydan de Roussel (1908-19..)“) und erbrachte neben der Übersetzung von Der Begriff des Politischen mit einer Teilübersetzung von Legalität und Legitimität die Übertragung einer weiteren Schrift Schmitts ins Französische (de Benoist 15, 21). Entscheidend in diesem Zusammenhang ist Gueydan de Roussels nationalistische, rassistische und speziell antisemitische Gesinnung, die sich insbesondere anhand der Titel seiner eigenen Veröffentlichungen sowie seiner politischen Ämter erkennen lässt. Neben der Herausgabe der Schriften La question juive en France (1942) und À l’aube du racisme, l’homme spectateur de l’homme (1940) gründete und leitete er während der Besatzungszeit auch die Commission de combat anti-judéo-maçonnique (“William Gueydan de Roussel (1908-19..)“). Kauffmann und Lenoire sprechen von einer „omniprésence“ (435), die Gueydan de Roussel darüber hinaus im Cercle aryen gezeigt habe, den sie wiederum als „cercle ultra-collaborationniste“ (435) bezeichnen. Der in Frankreich zu Schmitt forschende Jean-François Kervégan identifiziert Gueydan de Roussel folgerichtig als „un authentique nazi français“ (28).

Wie bei Sandrine Baume, zeigt sich auch bei William Gueydan de Roussel das entsprechende Motiv zur Übersetzung in der Ausgestaltung der Übersetzung selbst. Auch hier soll zur Veranschaulichung ein Beispiel bemüht werden, das mir sehr aussagekräftig scheint. Schmitt sagt im Original zur Freund-Feind-Unterscheidung (Schmitt, Der Begriff des Politischen 8): „Der Feind ist in einem besonders intensiven Sinne existenziell ein Anderer und Fremder, mit dem im extremen Fall existenzielle Konflikte möglich sind.“ Gueydan de Roussels Übersetzung ist symptomatisch für seinen grundsätzlichen Übersetzungsstil der gesamten Schrift. Er übersetzt wie folgt (Schmitt, Considérations politiques 2): „L’ennemi est, avant tout, un étranger, avec lequel un conflit peut se transformer, dans les cas extrêmes, en une lutte sans merci.“ Während Schmitt also eher abstrakte Begriffe wie ‘intensiv‘, ‘Sinn‘ und ‘existenziell‘ benutzt, wirkt die Übersetzung Gueydan de Roussels bestimmter und handfester. Gueydan de Roussel gibt den beispielhaft betrachteten Satz kompakter, weniger interpretationsfähig und damit im Vergleich zu Schmitt gewissermaßen banalisiert wieder. Sehr auffällig ist auch Gueydan de Roussels Zusatz „sans merci“, also „erbarmungslos“, der sich auf das Wort „lutte“ bezieht. Diese Konnotation ist im Original so nicht zu finden und verschärft bzw. radikalisiert die Übersetzung, die ohnehin schon provokativ erscheint, erheblich.

Fazit

Ziel dieses Beitrags ist es, einen Gesamtüberblick über die grundsätzliche Ausrichtung und Charakteristik des Promotionsprojektes zu geben sowie zwei Beispiele einer völlig konträren Rezeption Schmitts konkret aufzuzeigen. Der anhand der beiden Beispiele verdeutlichte Kontrast in der Rezeption Schmitts äußert sich durch die Faktoren, die ich eingangs als konstitutiv für meine Gesamtbetrachtung deklariert habe, nämlich das Profil des Übersetzers, d.h. seinen persönlichen Hintergrund, den Zweck der Übersetzung und die technische Ausgestaltung der Übersetzung selbst.

Baume als Politologin ist mit der Übersetzung von Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen an einer sachlichen Aufarbeitung der theoretischen Grundlagen von Schmitts Staatsdoktrin interessiert, während Gueydan de Roussel, trotz seiner Position als Akademiker, die Übersetzung von Schmitts Schrift Der Begriff des Poltischen ganz eindeutig zur unmittelbaren politischen Einflussnahme zu instrumentalisieren versucht, nämlich zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Tötungsideologie.

Zwar ist ein 1:1-Vergleich aufgrund des zeitlich und gesellschaftspolitisch unterschiedlichen Rahmens beider Übersetzungen zweifellos nicht möglich und auch gar nicht gewollt; möglicherweise ist auch die Schrift Der Begriff des Politischen ihrem Wesen nach provokativer ausgestaltet als das von Baume übersetzte Original, jedoch offenbart der Vergleich der Erstellung, Bekanntmachung und Handhabung der jeweiligen Übersetzung durch den Übersetzer zentrale Unterschiede in Hinblick auf den jeweiligen Einfluss des Übersetzers und der Übersetzung auf die Rezeption Schmitts in Frankreich.

Für meine weiteren Untersuchungen ist es neben der Untersuchung weiterer Schriften und Übersetzer sehr interessant, die Zweitübersetzung von Der Begriff des Politischen von 1972 von Marie-Louise Steinhauser näher in Betracht zu ziehen, da der Zweitübersetzung eine gänzliche andere Motivation zugrunde liegt als der von Gueydan de Roussel und daher der konkrete Vergleich einzelner Übersetzungsentscheidungen interessant erscheint.

Literaturverzeichnis:

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de Benoist, Alain. Carl Schmitt. Bibliographie seiner Schriften und Korrespondenzen. Berlin: Akademie Verlag, 2003.

Fox, Brian. Carl Schmitt and Political Catholicism: Friend or Foe?. New York: City University of New York, 2015, https://academicworks.cuny.edu/gc_etds/929/?utm_source=academicworks.cuny.edu%2Fgc_etds%2F929&utm_medium=PDF&utm_campaign=PDFCoverPages. Letzter Zugriff am 27.4.2022.

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Kauffmann, Grégoire, und Michaël Lenoire. “Notices biographiques. Paul Riche“. L‘antisémistisme de plume. Hg.  Pierre-André Taguieff. Paris: Berg, 1999. 433–441.

Kervégan, Jean-François. “Pourquoi et comment lire Carl Schmitt?“. Conceptos Históricos 4.6 (2018): 26–43.

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“William Gueydan de Roussel (1908-19..)“ BnF Data, https://data.bnf.fr/de/13600957/william_gueydan_de_roussel/. Letzter Zugriff am 15.10.2020.